Rückblick

Friederike Kretzen (links) beim Lesen, Ariane Koch beim Signieren.
Friederike Kretzen und Ariane Koch im Gespräch
Vom Bleiben, Reisen und Schreiben
Es war quasi der Auftakt zum Jubiläumsanlass vom 23. Juni, der unter dem Titel «Literarische Duette» über die Bühne im «Schweizerhof» gehen wird. Die Doppellesung mit Ariane Koch und Friederike Kretzen entstand allerdings in diesem Format auf Wunsch von Ariane Koch. Sie hatte sich gewünscht, im Doppel aufzutreten, zum Beispiel mit einer Freundin – und diese war dann niemand Geringerer als die bekannte Autorin Friederike Kretzen. Zwei verschiedene Generationen also lasen aus ihren neusten Werken, die 35jährige Ariane Koch aus ihrem mehrfach ausgezeichneten Debütroman «Die Aufdrängung», die 66jährige Friederike Kretzen aus ihrem soeben erschienenen Roman «Das Bild vom Bild vom grossen Mond». Es sind zwei anspruchsvolle Texte, und ebenso anspruchsvoll war das erhellende Gespräch darüber. Die beiden Autorinnen gingen wunderbar auf die in ihren Werken expliziten oder auch nur angetönten Themen ein. Die Kindheit spielt in beiden Büchern eine grosse Rolle: Das Kind, das die Fantasie oder die Imagination spielen lässt, ohne zu wissen dass es ein Kind ist. Beim literarischen Schreiben später dann die bewusst eingesetzte Kraft der Imagination, die den Stoff auch aus der Kindheit bezieht. Natürlich wurde dann das Hauptmotiv von Ariane Kochs «Aufdrängung» im Gespräch erläutert und weitergesponnen. Der unbenannte Gast im Roman gab Anlass, nachzudenken über unsere Rolle als Gastgeber allgemein oder zum Beispiel auch Flüchtlingen gegenüber. Wie scheinbar unpolitische Texte auch plötzlich gesellschaftspolitische Relevanz bekommen, zeigte sich im Gespräch immer wieder. Friederike Kretzen verstand es, mit ihrem grossen Bildungshintergrund immer neue Bezüge herzustellen und so neue Zugänge zu den Texten zu verschaffen. Wunderbar, wie sie das Motiv der Puppenstube aufnahm, daraus ein Plädoyer «für die Liebe zum Kleinen» formulierte, das dann auch zu einem Plädoyer für die Literatur und die Kraft der Imagination wurde: Das Schreiben ist immer auch ein Aufbruch in unbekannte Welten, eine Reise «zur imaginären Geografie», ein Erschliessen von neuen Räumen.
Fenster zu neuen Sichtweisen
Wenn man zu Besuch gehe, solle man ein Fenster und eine Lampe mitbringen, zitierte Friederike Kretzen sinngemäss einen persischen Autor. Erhellung und Erweiterung der Sichtweisen: Dahinter steckt auch eine Forderung nach mehr Toleranz. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sich verunsichern lässt, Rollen in Frage stellt und Doppeldeutigkeiten zulässt. So wurden immer neue Räume gedanklich geöffnet, neue Fragen in den Raum gestellt, zum Beispiel: Ist Reisen nicht immer auch eine Form von Aufdrängung? Für die Zuhörenden und den Schreibenden stellte sich am Schluss des Abends die sich aufdrängende Frage: Wer waren jetzt die Gäste und wer die Gastgeberinnen? Die Autorinnen oder die Zuhörenden? Oder können/müssen/dürfen wir beides sein?
Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Moderator und Vorlass-Verwalter Rudolf Probst (links) im Gespräch mit «seinem» Autor Hansjörg Schertenleib.
Rudernd und reisend den Vater erfinden
Es war ein doppelter Einblick, den Hansjörg Schertenleib den rund 40 Literaturinteressierten im Schweizerhof bot: Einerseits den Einblick in das fertige Romanprodukt, den Roman «Im Schilf» in Form einer kurzen Lesung, andererseits den Einblick in den literarischen Schaffensprozess, der vor über 40 Jahren begann. Rudolf Probst, der Schertenleibs «Vorlass» im Schweizerischen Literaturarchiv betreut und erschliesst, befragte den 65-Jährigen mit feinem Humor nicht nur zum neusten Werk, sondern auch zu den Anfängen des Schreibens. Der gelernte Schriftsetzer gestand, dass er schon während der Lehre davon träumte, nicht nur fremde Texte mit dem Winkeleisen in die Bleisatzkästen zu setzen, sondern Selbstgeschriebenes. Schreiben sei für ihn immer auch Handwerk gewesen, nicht nur akademische Kopfarbeit, «action writing», spontanes und intuitives Dahinschreiben, das aber beim Schreiben durchaus einen Gestaltungsprozess durchläuft. Der Stoff des neusten, des 27. Buches von Schertenleib ist sehr autobiografisch grundiert. Anlass war der Tod seines Vaters, der ihm kein rechter Vater war, weshalb er sich als «falscher Sohn» fühlte. Die Literatur sei eine Möglichkeit, Wahrheiten neu zu setzen, den Vater neu zu erfinden (und so auch einen Akt der Versöhnung und der Befreiung einzuleiten). Raffiniert setzt Schertenleib dem Vater des Ich-Erzählers einen «Gegenvater» gegenüber: Max, den ehemaligen Schwiegervater, der ihm zum väterlichen Freund wurde. «Im Schilf» ist eine Row und Road Novel, rudernd und reisend werden Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. In der Natur am Sihlsee und in Irland (wo der Autor selber viele Jahre lebte) spiegeln sich die Gefühle, es ist sein «romantisches Erzählprinzip», das zu wunderbaren Naturbeschreibungen führt. Die grosse und anhaltende Liebe zu Irland, zu den Menschen dort und zur Landschaft, war auch im Gespräch immer wieder Thema, brachte manche Anekdote zu Tage. Nicht fehlen durften kleine Seitenhiebe gegen den heutigen Literaturbetrieb, doch diese wurden gleichsam abgemildert durch eine wohltuende Selbstironie. Und dann verriet Schertenleib, der Vielseitige, auch noch etwas über sein nächstes Projekt: Ein Mundartroman soll es werden, nicht nur selbst geschrieben, auch selber gestaltet und mit einem selbst verfassten Klappentext. Der «aus der Zeit Gefallene» kehrt wenigstens teilweise zu den Anfängen zurück und wird uns zweifellos überraschen mit neuen «eskapististischen Möglichkeiten der Literatur».
Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Leben und Lieben im Doppelpack
Es war ein Eintauchen in die kultivierte, (gross)bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts. Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» erzählt die Geschichte der Brüder Goncourt, Edmond ist der ältere, Jules der jüngere und kränkere der beiden. Es sind zwei Leben und doch nur eines, das sich die beiden Brüder im selben Haushalt teilen.
Der eine kann nicht ohne den andern, das ist im Schreiben so und im Sterben, mindestens beinahe. Und auch im unverbindlichen Lieben teilt man sich die Geliebten. Ein Doppelleben führt aber auch Rose, die Haushälterin der beiden Junggesellen. Davon aber erfahren die beiden erst nach deren Tod, was umgehend in einen Roman verwandelt wird. Den Herrschaften ist die weibliche Gegenfigur Rose entgegengesetzt, die als «Hörige» und Abhängige die «Untertanenwelt» verkörpert und mit durchaus krimineller Energie die Brüder betrügt. So wird auf verschiedenen Ebenen doppelt gemoppelt, um es etwas salopp zu sagen. Sulzers Stil ist allerdings alles andere als salopp. So erlesen wie die Speisen, welche die Goncourts sich einverleiben, so erlesen ist Sulzers Stil. Und wenn er vorliest, wird die Sinnlichkeit der Sprache zu einem sinnlichen Hörvergnügen. Ein feiner Humor durchzog die vorgelesenen Stellen, unvergessen die Beschreibung der ungeniessbaren Speisen, welche Rose den Brüdern zubereitete – stets im Glauben, eine vorzügliche Köchin zu sein.
Das Buch basiert auf den berühmten 7000 Tagebuchseiten der Goncourts, die den Basler Autor so beeindruckt haben, dass er ihnen zu einer neuen Wahrheit und zu neuem Leben verholfen hat. Denn Schreiben heisst bei Sulzer arrangieren, verdichten, auslassen, ja, und auch ausschmücken, wie er auf Fragen des Moderators Urs Bugmann ausführte. So ist das «Doppelleben» bei aller Tragik ein vergnügliches Sitten- und Unsittengemälde, farbig, keine Biografie, aber ein lustvoller Blick in das Wohn-, Ess-, und Schlafzimmer zweier hochbegabter Brüder im Geiste, die dank Sulzers Roman weiterleben und -lieben.
28. Februar 2023 – Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Franco Supino: In der neapolitanischen Gegenwart auf Vergangenheitssuche.
Franco Supinos Spurensuche in Neapel
Es ist auch die bekannte Geschichte von der Migration, der Auswanderung und dem Ankommen (oder Nichtankommen) im gelobten Land. Doch Franco Supino weitet in seinem Roman «Spurlos in Neapel» die Geschichte aus. Nicht Grenchen oder Solothurn, wohin Supinos Eltern in den sechziger Jahren aus dem neapolitanischen Hinterland ausgewandert sind und wo Supino 1965 geboren wurde, sind Ort der Handlung, sondern Neapel und sein Umfeld sind es. Und wo Neapel ist, ist auch das Thema Camorra nicht weit weg. Die Lesung und das Gespräch mit dem Literaturvermittler Beat Mazenauer ermöglichten einen tiefen und kenntnisreichen Einblick einerseits in die Arbeitsweise und schriftstellerische Motivation von Supino. Anderseits aber auch zu Fragen der Identität und der Herkunft. «Du willst ja gar kein Italiener sein», habe ihm seine Mutter gesagt. Seine Schulkollegen hätten die Cantautori der siebziger Jahre besser gekannt als er selbst. Ausgangspunkt des autofiktionalen Buches ist «die Suche, nach dem, was Vater und ich vermisste». So reist der Ich-Erzähler nach dem Tod des Vaters in Italiens Süden, erforscht dort Mentalitätsunterschiede und fragt sich immer wieder, was gewesen wäre, wenn die Eltern mit ihm und seinen Geschwistern nach Neapel zurückgekehrt wären? Wären seine Moralvorstellungen dieselben geblieben, wie er sie in der Schweiz entwickelt hatte? Oder ist so etwas wie Gerechtigkeit milieuabhängig? Die Frage nach den Wurzeln und nach Zugehörigkeit stellt sich auch bei der Suche nach dem spurlos verschwundenen afrikanischen Migrantenjungen Antonio, dem eine Camorra-Familie Aufnahme gewährte. So wiederholen sich Migrationsgeschichten. Auch Supino war ein paar Monate lang «spurlos verschwunden» in Solothurn. Als Sohn eines Saisonniers musste er unsichtbar bleiben. Die eigene Geschichte, die vor Ort recherchierten und die erfundenen, machen das, was Supino «eine echte Fälschung» nannte, «so wie auch der exportierte Mozzarella di bufala eine echte Fälschung ist». Sein Schreiben bleibe eine Suche nach der eigenen Biografie, auch wenn er dazu andere Protagonisten benütze. «Ich muss den Grund spüren, weshalb ich schreibe – und das ist die Verbindlichkeit mit dem eigenen Leben.»
19. Januar 2023 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Ein grossartiger Geschichtenerzähler: Catalin Dorian Florescu.
Florescus fulminantes Feuerwerk
Es war ein fulminanter Abschluss des LGL-Jahresprogramms 2022: Catalin Florian Florescu las aus seinem neusten Roman «Der Feuerturm» und er entzündete buchstäblich ein literarisches Feuerwerk. Und um im Bild zu bleiben: So viel Feu sacré ist an einer Lesung selten zu spüren. Denn es waren nicht nur die vorgetragenen Texte, die von einer unbändigen Erzähllust zeugen, es war auch der im Gespräch mit der Moderatorin Martina Kuoni vor narrativer Freude sprudelnde Autor. «Der Feuerturm» ist eine Familiensaga im Bukarest der letzten hundert Jahre. Drei Jahre Recherchearbeit liegen dem 360seitigen Buch zugrunde, gesammelte Fakten, erweitert durch die schier grenzenlose Fantasie des Autors und ergänzt mit eigenen Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend. Florescu wuchs in Rumänien auf und kam erst als 14-Jähriger in die Schweiz. «Der Feuerturm» beginnt mit einer Legende, deren Kernsatz lautet: «Die Welt war eine Lichtung im Walde.» Mythen und Legenden, Religion und (Aber)glauben werden vermischt mit den historischen Fakten. Dies führt zu einem «magischen Realismus», wie wir ihn auch von der südamerikanischen Literatur kennen. Besonders hervorgehoben hat Florescu seine Liebe zu den Heiligen, und deren gibt es viele im Buch. Kleine Geschichten und die grosse Geschichte, das Private und das Politische sind untrennbar verbunden und überlappen sich. Tote und Lebendige treffen aufeinander und umzingeln den «Feuerturm», dieses einst höchste Gebäude von Bukarest. Dieser Turm war es denn auch, der die Initialzündung zum Buch gab, denn eigentlich hatte Florescu eine andere Geschichte im Kopf, als er vor sechs Jahren nach Bukarest reiste. Doch er verliebte sich in dieses Bauwerk, und so wurden der Turm und dann die ganze Stadt zu Protagonistinnen dieser grossen Erzählung, in der das Melancholische und das Komödiantische sich abwechseln. Geschichte wiederholt sich, doch trotz der immer wiederkehrenden Gewalt bleibt die Hoffnung auf Glück, eine Kontinuität des Menschlichen. «Der Feuerturm» ist auch ein Buch gegen das Vergessen wie das Schreiben Florescus eine Form des lustvollen Widerstands ist. «Kreativität ist nichts anderes als sich verlieben», sagte der Autor im Gespräch. Wollen wir hoffen, dass er sich weiterhin verliebt!
13. Dezember 2022 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Das (vielleicht) Beste vom Literaturjahrgang 2022
Es gibt die Bestsellerlisten, die auf Verkaufszahlen beruhen, dann gibt es die Bestenlisten, die von Berufskritiker:innen erstellt werden und dann gibt es Beat Mazenauers «Vermutlich beste Buchneuheiten», jeden November exklusiv und wortreich erläutert für die LiteraturGesellschaft LGL. 25 Bücher in zwei Stunden, vom Preisgekrönten und -verwöhnten Kim de L’Horizon bis zur fast vorgesessenen Lyrikerin Erika Burkart, von Mundartgedichten für Kinder bis zu Zukunftsvisionen mit Künstlicher Intelligenz – die Breite der Auswahl war gross, sie widerspiegelt die vielfältigen Interessen und die unermüdliche Entdeckungslust des umtriebigen Literaturvermittlers. Beeindruckend, wie Beat Mazenauer gestenreich und manuskriptfrei Inhalte und Besonderheiten zusammenfassen und auf den Punkt bringen kann, wie er Verknüpfungen und Bezüge über die Werke hinaus herstellt, wie er an ausgewählten Textbeispielen literarische Amuses bouches serviert. Die Nobelpreisträgerin und der Buchpreisträger bildeten bei der Auswahl 2022 die Ausnahme, indem sie auch auf fast allen Bestsellerlisten erscheinen, der Rest war weitgehend ausgesuchte Feinkost, Texte aus der «Spezialitätenküche», erlesen und auserlesen von einem Belesenen und unaufhörlich leidenschaftlich Lesenden. Haben Sie schon von einem Buch gehört, das «Der gefrorenene Zulu im Diemtigtal» heisst oder «Der Teufel hat keine Zeit», von «Republik der Taubheit» oder «Mama ist verrückt und Papa ist betrunken»? Auch diese Titel gehören nach Beat Mazenauers Wertung zu den wahrscheinlich oder vermutlich Besten des Jahres 2022. Erwartete Autorinnen oder Autoren wie Hürlimann oder Sulzer fehlen, aber Unerwartete oder Unbekannte wecken neue Leselust. «Eine Wahrheit gibt es nicht, aber es gibt die Wahrscheinlichkeit, die immer auch andere Wahrheiten ermöglicht», sagte Mazenauer einmal bei einer Buchbesprechung. Wie wahr – auch für seine Auswahl.
Die ganze Liste mit kurzen Erläuterungen finden Sie hier
Hans Beat Achermann (Text)

Frédéric Pajak und seine Übersetzerin Ruth Gantert bereiten sich auf die Lesung vor.
Frédéric Pajak: Das Ungewisse manifestiert sich zweisprachig
Ein Buch ohne Ende, un livre sans fin zu schreiben und zu zeichnen: Das war Frédéric Pajaks Intention. Neun Bände sind es jetzt, die der nun 67jährige französisch-schweizerische Künstler und Herausgeber unter dem Titel «Manifeste incertain» publiziert hat, sechs sind bis anhin von Ruth Gantert ins Deutsche übersetzt worden. Bei diesen neun soll es bleiben. Ruth Gantert war es auch, die Pajak an diesem aussergewöhnlichen Abend im Schweizerhof kenntnisreich auf Französisch befragte. Aussergewöhnlich, weil es nicht nur eine Lesung war, sondern auch eine visuelle Präsentation, bei der via Beamer ausgewählte Zeichnungen projiziert wurden. Denn die Zeichnungen und Texte in Pajaks Bücher gehören unabdingbar zusammen. Diese ganz eigene Gattung Literatur, in der Pajak künstlerischen Aussenseitern mit Worten und Tuschezeichnungen nachspürt, ist weder Comic noch illustrierte Biografie. Am Beispiel von Vincent van Gogh, der in Band 5 des «Ungewissen Manifests» Thema ist, erläuterte Pajak seine Arbeitsweise. «Voraus geht eine monatelange Recherchearbeit, während der ich Biografien, Originaltexte, Korrespondenzen usw. lese.» Oft zeichnet er dann sur place, und wenn er unterwegs ist – und das ist er oft – macht er unendlich viele Notizen in seine Carnets. Die meisten Zeichnungen fertigt er in einer fast manischen Arbeitsweise innerhalb von zwei, drei Monaten an. Langsam fügt sich dann alles zusammen, wie beim Film ist es eine Montagearbeit, die zum fertigen Buch führt.
Neben van Gogh beschäftigte er sich mit Walter Benjamin, Fernando Pessoa, Ezra Pound und weiteren Randfiguren, wie er sie selber nennt. Es sind die Widersprüche in diesen Menschen, die ihn faszinieren, Existenzen, die scheitern, die verkannt und die offensichtlich mit Pajak irgendwie seelenverwandt sind. Mit den beiden «Sprachen» Text und Bild gelingt es ihm, Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen und dem Betrachter und der Leserin Raum zu lassen für eigene Reflexionen. Schon der Titel des rund 2300 Seiten und 1500 Bilder umfassenden «Ungewissen Manifests» markiert einen Widerspruch, der bei Pajak, wie er deutlich machte, durchaus auch politisch zu verstehen ist. Ideologien hasst er, das Suchende, das seinen «Antihelden» eigen ist, zieht sich auch durch Pajaks eigenes Leben, das zeigte sich bei einem kurzen Einblick in Band 6, der die eigene Biografie zum Thema hat und in dem auch der frühe Unfalltod seines Vaters dargestellt wird. Es kann nicht erstaunen, dass über den wunderbaren schwarzweissen Federzeichnungen, besonders auch den Landschaften, immer eine leichte Melancholie liegt. Im Buch über van Gogh heisst es einmal, Vincents Pfad, auf dem er sich bewege, sei schmal. Auch das lässt sich auf Pajak übertragen, doch auf diesem schmalen Gratpfad bewegt sich der Künstler mit einer Souveränität, die seinesgleichen sucht. Man hätte dem Abend gewünscht, dass er kein Ende hätte, doch Frédéric Pajak musste ganz banal auf den Zug. Kein Zweifel, dass er, der Besessene und Unermüdliche, noch während der Fahrt sein Carnet weiter füllte, sans fin.
26. Oktober 2022 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Esther Kinskys literarisches Seismogramm
Erdbeben haben öfter Eingang gefunden in die Literatur, von Kleist über Reinhold Schneider bis zu Haruki Murakami. Auch «Rombo», das neuste Werk der deutschen Autorin Esther Kinsky, hat ein Erdbeben als Ausgangspunkt. Bei ihrer Lesung im «Schweizerhof», welche die LGL zusammen mit dem Literaturhaus Zentralschweiz organisiert hatte, wurde schnell klar, dass der Roman weit mehr ist als eine Beschreibung der Zerstörungen, welche das verheerende Beben 1976 im Friaul verursacht hatte. Rombo ist das italienische Wort, welches das unheimliche Grollen bezeichnet, das vor dem Beben spürbar ist. Jede der sieben Figuren, Bewohnerinnen und Bewohner eines nicht namentlich genannten Dorfes, erzählt aus ihrer Erinnerung den Tag des Bebens, beschreibt die Zeichen und Ahnungen, die zum Teil auch verwurzelt sind in alten Mythen. Dieser eine Teil, die Erzählpassagen aus der Perspektive der Betroffenen, sind komponiert aus Gehörtem, oral history literarisch verdichtet. Ergänzend zugefügt sind Beobachtungen einer Ich-Erzählerin aus heutiger Perspektive sowie naturwissenschaftliche Erklärungen, Mythen und Legenden, Reflexionen über das Erinnern und über das Vergessen. Sie habe «das poetische Potenzial» der naturwissenschaftlichen Literatur benutzt, sagte die Autorin im Gespräch mit Esther Schneider. Immer klarer wurde dank der klugen Fragen der Moderatorin die Vielschichtigkeit von «Rombo». Kinsky, die selbst einen grossen Teil des Jahres im Friaul lebt und schreibt, entpuppte sich als eine in vielen Wissenschaften bewanderte Erzählerin, die höchst präzise formuliert, Gehörtes, Gesehenes und Gelesenes in eine eigenständige Romanform bringt. Ein Abend, der die rund 30 Interessierten restlos begeisterte und viele angeregt haben dürfte, sich selbst Gedanken über das Wahrnehmen, über das Erinnern und über das Sehen, das «Weiter sehen» zu machen. So wird Esther Kinskys nächstes Buch heissen, wie sie verraten hat. Es wird vom Kino handeln.
Hans Beat Achermann (Text), Daniela Krienbühl (Bild)

Moderator Hans Beat Achermann und Autorin Sarah Kuratle nach der Lesung.
Hänsel und Gretel in neuer, zauberhafter Form
Die 1989 in Bad Ischl geborene, dies- und jenseits der österreichischen Grenze aufgewachsene Autorin Sarah Kuratle las aus ihrem Romandebüt «Greta und Jannis», 2021 im Otto Müller Verlag erschienen.
Hans Beat Achermann, Vizepräsident der LiteraturGesellschaft Luzern, begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass man fast nicht mehr aufhören könne, über dieses Buch und seine Geheimnisse und Anspielungen zu sprechen, wenn man einmal angefangen habe. Obwohl, wie er sagte, vor allem die Sprache, die Bilder, die Musikalität, die Konstruktion, die Farbigkeit den Text auszeichnen, wagte er eine Inhaltsangabe:
Zwei Nachbarskinder, ein Knabe und ein Mädchen, wachsen in enger Geschwisterliebe zueinander auf. Dann erfährt das zur jungen Frau gewordene Mädchen, dass der zwei Jahre jüngere Mann ihr Halbbruder ist, sie haben denselben Vater; die Gefühle der beiden sind plötzlich nicht mehr erlaubt, doch Gefühle kann man nicht einfach wegscheuchen. Es bleiben Sehnsucht, Heimlichkeiten, Fluchten – ein Märchen ohne Happy End.
Sehr behutsam und kompetent führte der Moderator durchs Gespräch, fragte einleitend nach der Beziehung der Autorin zu den Märchen. Während ihres Studiums war Sarah Kuratle auf das Motiv der Geschwisterliebe gestossen. Im Schreibprozess seien die Figuren zuerst dagewesen; ausserdem ging es ihr auch wesentlich darum, die starken Gegensätze wie Gut und Böse, welche viele Märchen bestimmen, aufzulösen, diese Dichotomien aufzubrechen. Die Autorin liess das Publikum mit einer sehr gekonnten Lesung aus dem ersten Kapitel «Reise ins Gebirge» in diese lokal nicht festzumachende Welt eintauchen. Auch zeitlich bleibt vieles schwebend, «Vor acht oder in hundert Jahren», sagt der Untertitel, den sie eigentlich gern als alleinigen Titel gesetzt hätte.
Auf die Frage, wie sie die Fäden zusammenhalte, die zahlreichen Motive durchziehe, verriet Frau Kuratle, dass sie sich am Anfang eines Schreibtags schon geschriebene Passagen vorlese, um Ton und Bildwelt wiederzufinden. Am Beispiel des mit feuerroten Federn, aufgenähten Bienen, Luchsohrpinseln und Schneckenhäusern verzierten Huts machte sie deutlich, wie wichtig die Natur, Tiere und Pflanzen, ihr sind, nicht nur als Kulisse. Ihr botanisches und zoologisches Wissen holt sie sich aus Büchern, wichtigen Begleitern ihres Schreibens. Eines Schreibens, das vom Lyrischen durchdrungen ist; nicht von ungefähr, hatte sie doch mit dem Schreiben von Gedichten, die in Literaturzeitschriften wie den «manuskripten» veröffentlich wurden, angefangen.
Diese Lyrik führten zwei weitere Passagen, beides Rückblenden, vor Ohren. Nach ihrer Nähe zu Greta gefragt, meinte Sarah Kuratle, sie fühle sich allen Personen gleichermassen verbunden, und zitierte Michael Köhlmeier, welcher feststellte, dass die Figuren einem vorausgehen. Und die Autorin fügte bei, das Schöne an der Literatur sei, dass sie Empathie möglich mache, fürs Anderssein sensibilisiere.
Wie findet man als junge Autorin einen Verlag? Als Antwort auf diese Frage sprach sie vom Glück des Zufalls: Der Verleger war Juror bei einem Wettbewerb, an dem sie mit den ersten beiden Kapiteln des Romans teilnahm. Auch die zentrale Beziehung zur Lektorin ist für sie ein Glücksfall; diese lässt ihr genügend Zeit, ist behutsam, will nichts vereinfachen.
Wie freuen wir uns auf den Roman, an dem Frau Kuratle aktuell arbeitet!
Zwei wunderbar stimmige Geschenke, ein Luzerner Lebkuchen und der «manuskripte»-Band von 1985, rundeten den märchenhaften Abend ab.
PS
Einem Aufruf des internationalen literaturfestivals berlin ilb folgend, las Frau Kuratle am Anfang des Abends eine sehr erhellende Passage aus Salman Rushdies Roman «Mitternachtskinder».
Text: Felicitas Spuhler, Bild: Marco von Ah
30. September 2022

Yael Inokai beim Signieren nach der Lesung.
Ein simpler Eingriff und ein komplexes Thema
Sie kam von Berlin, wo sie wohnt, und flog tags darauf nach New York, wo sie einen einmonatigen Stipendienaufenthalt verbringen kann. Yael Inokai, gebürtige Baslerin, las zwischen den beiden Metropolen in Luzern aus ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman «Ein simpler Eingriff». Zeit und Ort: Im Gegensatz zum wirklichen Leben von Yael Inokai spielen beide Begriffe in ihrem Roman kaum eine Rolle. Das Wo und das Wann sind ausgeklammert, darauf wies Moderatorin Mariann Bühler gleich zum Einstieg hin: Vielmehr sind es neben den Protagonistinnen Räume, die das Geschehen mitprägen: Der Operationssaal, das Patientenzimmer, das Zimmer der Krankenschwestern. Alles Orte, in denen Machtstrukturen sichtbar gemacht werden. Drei Ausschnitte las Yael Inokai. In allen spielte Zuneigung eine Rolle, aber auch deren Fragilität. Meret, die Hauptfigur, ist eine überwache Pflegefachfrau: «Sie muss alles sehen, damit sie in dieser Welt navigieren kann», sagte Inokai im Gespräch. Diese Welt, in der Begriffe wie Normalität und Normierung von Meret zunehmend hinterfragt werden. Die Wachheit spiegelt sich auch in der Sprache, in der alles Überflüssige eliminiert ist und die gerade deswegen eine grosse sinnliche Qualität hat. Überhaupt die Sinnlichkeit: Sie prickelte nicht nur in der fein beschriebenen Annäherung zwischen Meret und Sarah, sie ist für Yael Inokai auch buchstäblich im Stofflich-Materiellen wichtig. Sie liebe Stoffe und Mode, bekannte sie. Auch der Schreibakt selbst sei ein sinnlicher Prozess, sagte die Autorin im Gespräch mit Mariann Bühler, die mit Yael Inokai freundschaftlich verbunden ist, was der Moderation und dem Gespräch neben der fachlichen Kompetenz auch eine sehr herzliche Ingredienz beifügte. Es waren viele bedenkenswerte Sätze, die an diesem Abend im Schweizerhof zitiert und gesprochen wurden. Zwei habe ich notiert: «Auch beim Schreiben als Autorin weiss man manchmal erst im Nachhinein, worum es eigentlich geht.» Und: «Man hat nie genug von der Welt gesehen.» Da wird New York wohl noch nicht die letzte Destination gewesen sein.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
30. August 2022
Weiter zurückliegende Beiträge finden Sie in der Rubrik Archiv.